Märchen aus Aserbaidschan, dem Land des Feuers
Ein Bericht von Sophie Mahr
Wer hat sich nicht gefürchtet, als Hänsel und Gretel von der bösen Hexe entführt worden sind? Wer erinnert sich nicht an die Angst, ob Hänsel im Ofen verbrannt wird und an die anschließende Erleichterung und Freude, als die Beiden nach Hause zu ihrem Papa zurückkehren konnten? Abends im Bett liegen und von Mama oder Papa ein Märchen vorgelesen bekommen, war immer ein schönes Ende des Tages. Doch aktuell haben viele Menschen kein eigenes Bett mehr, sie sind gezwungen ihre alte Heimat zu verlassen und sich »irgendwo« ein neues Leben aufzubauen. An welche Märchen glauben diese Menschen? Der Autor Vougar Aslanov beantwortet diese Frage mit seinem Buch Die unglaubliche Geschichte von Malik Mammad und andere aserbaidschanische Märchen.
Vougar Aslanov wurde 1964 in Aserbaidschan geboren, 1998 kam er für das Studium der Slawischen Philologie, Film- und Theaterwissenschaft nach Deutschland. Inzwischen lebt Aslanov in Frankfurt am Main und hat sich hier eine zweite Heimat geschaffen.
Auf der Frankfurter Buchmesse 2016 wurde vorab ein erster Einblick in Vougar Aslanovs Märchenbuch gegeben. Er laß daraus Passagen vor und wurde von der Lektorin Edit Engelmann zu diesem interviewt:
Vougar Aslanov: »Alle elf Geschichten, die in Die unglaubliche Geschichte von Malik Mammad und andere aserbaidschainische Märchen stehen, habe ich nach Motiven der aserbaidschanischen Volksmärchen geschrieben. Sie sind aber nicht nacherzählt und auch nicht umgeschrieben oder eine Erneuerung alter Märchen; ich habe allerdings mitunter die Elemente eines und manchmal zweier oder dreier Märchen benutzt, um eigene Geschichten zu entwickeln.«
Edit Engelmann: »Deine Märchen erzählen eine für uns unbekannte Welt. Natürlich kommen auch Prinzessinnen darin vor, Schlangen, Könige, Zauberer – trotzdem ist alles anders als in unseren europäischen Märchen. Erzähl uns doch bisschen über die orientalische Märchentradition.«
Vougar Aslanov: »Aserbaidschan liegt zwischen Vorderasien und Osteuropa, zwischen Orient und Okzident. Natürlich haben aserbaidschanische Volksmärchen viele Motive, die mit den orientalischen Motiven übereinstimmen. Sie haben aber noch einige andere Eigenschaften, eigene Motive, die etwas Besonderes sind. Die aserbaidschanischen Märchen haben vor allem eine Tiefe, die der Seele gut tut, und eine Weisheit, von der man etwas lernen kann. Sie sind auch Wegbegleiter und Ratgeber des Menschen, dem sie den Sinn des Lebens erklären und von dessen Geheimnissen sie berichten. Diese Märchen haben, wie andere Märchen, öfter äußerlich spekulative und unzuverlässige Darstellungen, das ist aber nur eine Falle, um den Leser einzubeziehen. Hier in der Tiefe sind die Schätze verborgen, die man als »alte Wahrheiten« bezeichnet. Äußerlich unglaubwürdig und zauberhaft, funktionieren die hier dargestellten Mechanismen im Leben wirklich. Wie sich das Erzählte im Märchen Das Haupt der Spieler im Leben verwirklicht, habe ich sehr oft selbst erlebt. In meinen Augen verloren viele Männer, die ich kannte, im Glückspiel alles: ihr Geld, Eigentum, Familie, Position und auch den Respekt der Gesellschaft. Das ist auch universal: ich habe solche Fälle sowohl in Aserbaidschan als auch in Deutschland gesehen. Das vierzigste Zimmer erzählt vom Sinn des menschlichen Lebens: einst kommt der Tag, an dem du dich an alles, was du getan und erlebt hast, wieder erinnerst. Und man sollte so leben, dass es am letzten Tag nicht zum großen Bedauern kommt. Die Titelerzählung Die unglaubliche Geschichte von Malik Mammad hat einen wirksamen psychotherapeutischen Effekt. Malik Mammad sagt seinen älteren Brüdern, die ihn in einen tiefen Brunnen mit einem Strick herablassen sollen: »Zieht mich nicht zurück, wenn ich schreie, dass es zu heiß ist.« Als er die Mitte des Brunnens erreicht, lässt die Hitze nach. Mit mir geschah es im Leben öfter so: wenn ich etwas aufgeben wollte, erinnerte ich mich an Malik Mammads Worte, erduldete noch etwas und dann kam es wirklich zur Erleichterung. Sowohl nach orientalischer als auch nach aserbaidschanischer Märchentradition muss das Erzählte den Mensch lehren, ihm etwas Nützliches, Sinnvolles zu geben, was er in seinem Leben verwenden und sich daran orientieren kann.«
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Edit Engelmann: »Welche Nachrichten willst Du deinem Leser übermitteln?«
Vougar Aslanov: »Ich wollte immer, wie ich das verstand, gerade die Wahrheit und über die Leiden und Probleme der Menschen schreiben, darüber schreiben, was in Wirklichkeit geschah, also gesellschaftskritisch. In der Heimat schrieb ich in Russisch und bot meine Geschichten nicht nur Literaturzeitschriften in Aserbaidschan, sondern auch in Russland an. Ich schrieb am Anfang nur über das soziale Leben der Menschen, dann kam ich dazu, das Soziale mit dem Innerlichen zu verbinden, so eine Art realistische, tiefe sozial-psychologische Prosa zu entwickeln. Neben den Leiden der Menschen ist es für mich auch sehr wichtig, über dunkle, unaufgeklärte Seiten des Lebens zu schreiben. Ich will den Menschen, den Lesern das übermitteln: die Selbsttäuschung ist schön und bequem, das bringt den Mensch aber irgendwann zur Katastrophe. Die Wahrheit ist öfter unschön, unbequem und bitter, das kann aber freier machen.«
Edit Engelmann: »Was ist für Dich Heimat?«
Vougar Aslanov: Ich muss gestehen, dass ich keine besondere Nostalgie gegenüber meiner Heimat habe. Für mich ist es wichtig dort zu leben, wo ich mich verwirklichen kann. Aber was ich trotzdem vermisse, ist das Kaukasus-Gebirge. Mein Geburtsort liegt in der Ebene zwischen dem Kleinen und Großen Kaukasus. Als Kind ging ich öfter aufs freie Feld, dort konnte ich stundenlang die Berge beobachten. Ich habe eine innere Verbindung mit diesen Bergen und sie leben immer in mir.«
Edit Engelmann: »Märchen sind immer ein Stück Kultur und Tradition. Wie sehen die Unterschiede zwischen Deutschland und dem Kaukasus aus?«
Vougar Aslanov: »Ich sehe hier viel mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede, deswegen kann ich in Deutschland mit den Menschen gut zurecht kommen und habe auch hier viele Freunde. Im Kaukasus haben auch Ethik und Moral einen hohen Stellenwert. Die Menschlichkeit, die Gastfreundschaft sind auch dort die höchsten Werte. Im Kaukasus ist vieles noch so geblieben, wie es einmal war.«

Das Märchenbuch ist am 03. November 2016 erschienen. Der Künstler Vysal Rain ist 2011 aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen und versteht es mit seiner künstlerischen Begabung kreative Illustrationen den Märchen beizufügen.
Wenn Sie wissen möchten welche Märchen im Land des Feuers gelesen werden, tauchen Sie ab in Die unglaubliche Geschichte von Malik Mammad und erleben neue Abenteuer wie einst mit Hänsel und Gretel!