Ein Interview mit Carsten Nagels 
Bericht und Interview von Lisa Scheffler
Vorurteile, anklagende Blicke und das Gerede anderer Menschen – auch in einer aufgeschlossenen Gesellschaft ist es nicht leicht von der Norm abzuweichen. So geht es auch dem Paar in Carsten Nagels’ Geschichte »Das Flamenco-Date«. Sie sitzen in einer andalusischen Bar, trinken Rotwein, essen Tapas und lauschen einem Flamenco-Konzert. Ein ganz normales Date. Doch etwas ist ungewöhnlich. Die Gäste um sie herum tuscheln. Darauf kommt dem Protagonisten nur ein Satz in den Sinn: »Es ist schon komisch mit den Menschen und ihrer Liebe zur Normalität!«
Dieser Satz beschreibt perfekt den Gehalt von Carsten Nagels Geschichte »Das Flamenco-Date«, welche zuvor bereits unter dem Titel »Rote Liebe« in der Anthologie »Liebe und andere Schmerzen« erschienen ist. Jetzt wird diese Geschichte über Menschen, die durch das Raster der Normalität fallen in der Reihe »Appetit« als E-Book neu aufgelegt. Mit dem Autor haben wir uns unterhalten – über die Kurzgeschichte, seine persönliche Handschrift und vieles mehr.
Lisa Scheffler: Lieber Herr Nagels, Ihre Geschichte »Das Flamenco-Date« schreiben Sie in einer ungewöhnlichen Erzählweise. Sie erinnert an einen Inneren Monolog und unterscheidet sich deutlich von den meisten Geschichten, die im Präteritum geschrieben sind. Warum haben Sie gerade diese Art des Erzählens gewählt? Möchten Sie hier mit den Erwartungen des Lesers spielen?
Carsten Nagels: Mir gefällt diese Erzählweise. Die meisten meiner Kurzgeschichten habe ich in dieser Art geschrieben. Gibt sie doch die Möglichkeit, einen Einblick in des Seelenleben der Protagonisten zu bieten. Es ist meine persönliche Art, Kurzgeschichten zu schreiben, quasi meine persönliche Handschrift.

Lisa Scheffler: Das Ungewöhnliche und Besondere spielt auch für die Handlung Ihrer Geschichte eine große Rolle und wird dort immer wieder in Kontrast gesetzt zu dem »Normalen«. Auch das Paar darin bezeichnet sich selbst als ungewöhnlich und provoziert damit bewusst. Kann das als Gesellschaftskritik verstanden werden?
Carsten Nagels: Sicher kann diese Geschichte als Gesellschaftskritik verstanden werden.
Lisa Scheffler: Was ist Ihre Definition von Normalität?
Carsten Nagels: Spießbürgertum! Gesellschaftliche Regeln, die den ganzen Raum einnehmen und wenig Platz lassen für anders Denkende und Seiende.
Lisa Scheffler: Woher kam die Inspiration für »Das Flamenco-Date«?
Carsten Nagels: Im Rahmen der ersten Ausgabe der queeren Reihe suchte der Herausgeber der Anthologie »Liebe und andere Schmerzen« Jannis Plastargias noch nach einer Liebesgeschichte zwischen einer Person mit Handicap und einer ohne. Da ich selber eine halbseitige Lähmung habe und für mich eine Beziehung mit einer Frau ohne Handicap das Normale darstellt, habe ich mich dazu entschieden, eine Liebesgeschichte zwischen einem Behinderten und […] Mehr wird nicht verraten, sonst wird der Geschichte ja die Überraschung genommen 😉
Lisa Scheffler: Weitere wichtige Themen Ihrer Geschichte sind Musik, Rhythmus und Sex, die sich immer wieder ineinander spiegeln. So wird zum Beispiel vom Rhythmus der Musik und der Tänzer sowie von den rhythmischen Bewegungen beim Sex gesprochen. Wie kamen Sie dazu diese besondere Verbindung herzustellen?
Carsten Nagels: Für mich ist Musik Rhythmus, Rhythmus Sex und Sex ist wie Musik. Musik und Rhythmus haben eine sehr erotische Wirkung auf mich.
Lisa Scheffler: In der Geschichte wird von »Leidenschaft« und »Respekt« gesprochen, aber nie von Liebe. Ist das Absicht?
Carsten Nagels: Liebe ist die Basis für das Leben, der Atem, der Puls, der Herzschlag. Und Leidenschaft ist Lust und Begierde. Und Respekt ist meines Erachtens mehr als Liebe. Während Leidenschaft den sexuellen Teil der Liebe darstellt, ist Respekt der wertschätzende Teil. Mir war ehrlich gesagt nicht bewusst, dass ich das Wort nicht benutzt habe. Das Wort taucht zwar einmal auf aber in einem anderen Zusammenhang.
Lisa Scheffler: Auch Geheimnisse und Geständnisse sind essentiell für Ihre Geschichte. Besonders die Offenbarungen am Ende sind gut gehütete Geheimnisse bis zum letzten Absatz. Wie schaffen Sie es die Spannung aufrecht zu erhalten, ohne dem Leser die Überraschung vorweg zu nehmen?
Carsten Nagels: In der Geschichte, in der die Rahmenhandlung ein Flamenco-Konzert darstellt, war es einfach, […] bis zum Schluss nicht zu erwähnen. Ein großer Teil der Leser ist doch neugierig, in das Seelenleben anderer hineinzublicken. Und der Protagonist gibt doch sehr viel von seinen Gedanken preis. Und das fesselt den Leser ebenso.
Carsten Nagels wurde 1966 in Essen geboren. Von 1990-1997 studierte er Wirtschaftswissenschaften an der Gesamthochschule in Essen und von 2000-2003 Germanistik, englische Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Noch heute lebt er in Frankfurt und arbeitet als kaufmännischer Angestellter, freiberuflicher Texter und Bühnenpoet. Zudem ist er auf vielen Poetry Slams unterwegs. Seine Aphorismen und Kurzgeschichten sind in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht worden. Zu seinen wichtigsten Projekten zählen »Hammerbrecht und die Muse« (2002-2003) und »einfach gefühlsecht« – ein Projekt, bei dem er seine Texte graphisch interpretieren lies.
Von 1985-1990 war er Mitglied der Essener Literaturwerkstatt und Mitherausgeber der regionalen Literaturzeitschrift »buchstäblich«. Seit 1988 ist er außerdem Mitglied im Düsseldorfer Literaturbüro NRW.
Lisa Scheffler: Ursprünglich haben Sie Wirtschaftswissenschaften studiert und arbeiten auch heute noch als kaufmännischer Angestellter. Nebenbei schreiben Sie aber Aphorismen, Kurzgeschichten und nehmen an Poetry Slams teil. Wie sind Sie dazu gekommen sich literarisch zu betätigen? Und was schreiben Sie am liebsten?
Carsten Nagels: Angefangen zu schreiben habe ich als Teenager, um mir, und hier möchte ich Erich Fried zitieren, »den Stein vom Herzen zu schreiben«, Erlebtes als geschriebene Worte festzuhalten bevor die Zeit die Erinnerung verblassen lässt. War es anfänglich nur die Erinnerung, so mischte sich mit der Zeit immer mehr Fantasie dazwischen. In meinen Kurzgeschichten steckt immer ein Teil Erlebtes, aber auch sehr viel Fantasie. Ich finde es schon lustig, wenn die Leute auf mich zu kommen, ob ich der Protagonist in der Geschichte bin. Aphorismen bzw. Kurzgedichte schreibe ich immer dann, wenn ich mich von einem bestimmten negativen Gefühl befreien will. Sie haben ja selbst meine Kurzgedichte gelesen, und eine Vielzahl davon stimmen einen nachdenklich.
An Poetry Slams nehme ich aus Zeitgründen seit zwei Jahren weniger Teil. Man braucht auch Zeit, um auf Tour zu gehen und die fehlt mir ein wenig.
Lisa Scheffler: Wie konzipieren Sie Ihre Geschichten? Was ist Ihnen dabei wichtig?
Carsten Nagels: Mh, das ist eine schwierige Frage. Sobald ich mich für die Rahmenhandlung und den Ort einer Geschichte entschieden habe, gehe ich Schritt für Schritt vor. »Rote Liebe« entstand während eines Urlaubs im spanischen Andalusien, dem Mutterland des Flamencos. Deshalb ist auch Ort des Geschehens: eine Tapasbar, in der Flamenco aufgeführt wird.
Wenn ich Kurzgeschichten oder Gedichte schreibe, muss ich mich in einer besonderen Stimmung befinden. Sie ist für mich Grundvoraussetzung einer guten Geschichte oder ein gutes Gedicht. Fehlt die Stimmung, so brauche ich gar nicht erst mit Schreiben zu beginnen.
Lisa Scheffler: Gibt es etwas, worüber Sie schon immer schreiben wollten, es aber nicht geschafft haben?
Carsten Nagels: Sicher gibt es Themen, über die ich schon immer schreiben wollte, aber mich noch nicht an sie heran gewagt habe, zum Beispiel über das Leben mit einem Handicap. Da ich mir noch immer nicht sicher bin, wie ich konzeptionell an das komplexe Thema herangehe.
Lisa Scheffler: Planen Sie für die Zukunft neue Projekte? Vielleicht sogar beim Größenwahn Verlag?
Carsten Nagels: Ja, aber das Projekt befindet sich erst in einem Anfangsstadium um mehr darüber sagen zu können. So viel sei aber gesagt, meinen Schreibstil wird der Leser wiederfinden.

Haben Sie Lust bekommen auf das Außergewöhnliche? Dann ist »Das Flamenco-Date« genau das richtige für Sie! Auch wenn Sie Appetit auf mehr bekommen haben, warten in der Größenwahn Appetit-Reihe noch viele schöne Geschichten mit den passenden Rezepten auf Sie.